Sehnsucht

Veröffentlicht am 12. September 2024 um 14:17

Ruhen in tiefem inneren Frieden. Aus dieser Quelle heraus handeln - das ist meine Sehnsucht.


Italien, mitten im Hochsommer. Mir läuft der Schweiß von der Stirn, das Hemd klebt an meinem Rücken fest. Der Fahrtwind, der durch das offene Faltdach des Autos weht, bringt keine Kühlung. Die Luft flirrt in der Hitze, es ist Mittag. Seit gestern Abend bin ich unterwegs in Richtung Toskana. Die Adresse für meine Unterkunft und sogar den Schlüssel hatte ich von einer guten Freundin erhalten. Ich bin gespannt, was mich erwartet.

Nach vielen Stunden Fahrt nähere ich mich nun dem kleinen, weiß gekalkten Haus, das sich an einen Hügel schmiegt. Es steht inmitten von Olivenbäumen. Ich biege von der Hauptstraße ab. Auf den letzten Metern schüttelt mich der Schotterweg heftig durch. Im Rückspiegel sehe ich aufgewirbelten Staub. Nach wenigen Minuten Fahrt erreiche ich das Haus und stelle den Wagen ab. Dann nehme ich den Koffer von der Rückbank und gehe zur Haustür. Das Türschloss quietscht beim Aufschließen, die Tür knarrt, während ich sie öffne. Ich trete ein, stelle mein Gepäck ab und öffne die Fenster.

Dann hole ich mir eine Glaskaraffe und fülle sie mit Wasser aus dem Brunnen neben dem Haus. Das kühle Wasser läuft meine Kehle hinunter und stillt meinen Durst. Neben dem Brunnen wächst ein Baum, dessen weit ausgebreitete Äste Schatten spenden. Ich setze mich neben den Baum in das trockene Gras und lehne mich an den Stamm; Rindenstücke und Knorpel drücken hart und unangenehm an meinen Rücken. Dennoch mache ich es mir so gut wie möglich bequem. Ich bin zu müde, um mir noch einen anderen Ruheplatz zu suchen.

Meine Aufmerksamkeit verlagert sich, ich höre die Zikaden zirpen. Gedankenverloren döse ich vor mich hin. Nach einiger Zeit hebe ich den Kopf und lasse meinen Blick in die Ferne schweifen. Sanft heben sich die Konturen der Hügel von dem dunkelroten Himmel ab. Schatten breiten sich wie dunkle Tücher über die Täler aus, es wird Abend. Ich bleibe sitzen und beobachte, wie es langsam dunkel wird. Die ersten Sterne sind am Himmel zu sehen. Es kühlt merklich ab und mir wird kalt. Ich stehe auf und gehe ins Haus, in ihm schwingt noch die Wärme des Tages nach. Auf dem Tisch in der Essecke zünde ich eine Kerze an. Dann schließe ich die Fenster und die Tür und bereite mir einen Salat vor, dessen Zutaten ich mir mitgebracht habe: würziger Schafskäse, reife, saftige Tomaten und frisches Olivenöl. Der Duft steigt mir in die Nase. In der Vorratskammer entdecke ich eine Flasche Wein. Mit einem leisen "Plopp" entkorke ich die Flasche und gieße mir ein Glas ein, halte es vor die Kerze und schaue in das tiefe Rot des Weins. Dann probiere ich den ersten Schluck. Die Geschmacksnerven auf meiner Zunge ziehen sich zusammen.

Der sanfte Schein der Kerze verbreitet in dem Zimmer ein geheimnisvolles Licht. Es ist eine Einladung, still zu werden. Ich schließe die Augen und richte meine Aufmerksamkeit nach innen. Die Unruhe, die noch in mir ist, verschwindet nach ein paar bewussten Atemzügen. Ich atme tief durch und spüre Freude in meinem Bauch aufblitzen. Sie springt in schnellen Sätzen durch den ganzen Körper und zaubert ein Lächeln auf mein Gesicht, doch ich bleibe weiter aufmerksam und ohne Anstrengung bei mir.

Wie viel Zeit ist verstrichen? Ich tauche aus der inneren Welt auf und empfinde Klarheit, ohne Worte. Mein Körper fühlt sich ausgeruht und kraftvoll an, ich bin entspannt und ruhig. Eben habe ich erlebt, dass es in der Welt mehr gibt, als durch Zählen, Messen und Wiegen beweisbar ist. Doch ich kann das, was ich erfahren habe, kaum in Worte fassen. Auf meiner Reise in die innere Welt habe ich einen unablässigen Bilder- und Gedankenstrom in mir entdeckt. Und mir wurde klar, dass er machtvoll und meist unbewusst mein Leben - und Erleben - bestimmt. Die Bilder und Gedanken, die mich bisher beherrscht hatten, waren Zerrbilder des Lebens. Vorgefertigt durch die Unterhaltungsindustrie, durch Presse, Funk und Fernsehen. Diese Bilder will ich jetzt loslassen und mich dem Fluss des Lebens anvertrauen und von ihm tragen lassen. Eins sein mit mir und der Welt, nicht mehr kämpfen und um Anerkennung ringen müssen. Diesen Kampf will ich beenden und meine Kräfte auf etwas Anderes konzentrieren. Ruhen in tiefem inneren Frieden und aus dieser Quelle heraus leben - das ist meine Sehnsucht. Auch wenn der Alltag mich immer wieder versucht abzulenken.

 

Rüdiger Schaller, 12.09.2024

Autor des Buches "In die Stille"

Lektorat: Dominique Zapfe-Nolte

 

Weiterführende Reflektionen: Blogeintrag "Unsere Quelle – und die die große Ablenkung"

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