Die letzte Stunde vor dem Start in die lange Nacht. Es ist, als ob die Luft vibriert, voller Vorfreude und Vorstartspannung. Geschäftiges Treiben in und um das Kongresszentrum. Letzte Vorbereitungen werden getroffen. Nochmals still werden, auf den Start fokussieren. Dabei tief einatmen, über die Bronchien die Lungen mit frischem Sauerstoff füllen. Dennoch verbleibt bei diesem Start Nervosität, die mich durchpulst. Ich bin gespannt, ob ich gut durchkomme, bei der großen Willens- und Ausdauerprüfung

Mein Trainingsstand ist nicht sonderlich gut, ich hatte wenig Zeit, um konsequent zu trainieren. Es begann im Herbst letzten Jahres. Zunächst Schlusslektorat für mein erstes Buch: "In die Stille"; seit Januar ist es auf dem Buchmarkt. Und dazu noch eine Verschärfung meiner Atemprobleme. Seit vielen Jahren immer wieder ein Kampf um Luft, Luft zum Leben. Ich bin Asthmatiker, zum Glück kein Belastungsasthma. Da ist Laufen ein gutes Training für die Bronchien. Im letzten Herbst, nach einem Umzug im Bürohaus, verstärkten sich meine Probleme mit dem Atmen. Es folgte eine Reha im Februar, erst ab März wieder Start mit leichtem Lauftraining. Anfang Mai ein letzter Test: Ein Long-Jogg, nach einem Ratschlag vom LaufReport. In Mainz. Bei hohen Temperaturen den Marathon erfolgreich gefinisht. Das machte Mut: Mut, mich auch dieses Mal wieder auf das Abenteuer des großen Wettkampfs in der Schweiz einzulassen; dieses Jahr ist die 60. Veranstaltung! Auch das verdient Respekt.
Laufen und Leben nach einem Gedicht von Rainer Maria Rilke: "Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen, die sich über die Dinge ziehen. Den letzten werde ich vielleicht nicht vollbringen, doch versuchen will ich ihn." Da ist ein Scheitern inbegriffen, wir haben als Menschen im Grunde so wenig wirklich im Griff. Nein, es soll nicht der letzte Lauf, der letzte Wettkampf gewesen sein. Eher eine Motivationshilfe, Neues zu wagen, am Leben und vermeintlichen Schwierigkeiten zu reifen. Weitergehen, kein Stillstand.
Die Stimme am Mikrofon wird lauter, ich tauche aus meinen Überlegungen auf. Gleich ist der Start, das Feld der Läufer rückt enger zusammen. Letzte Aufmunterungen, dann der Startschuss. Los geht's! Langsames Lostraben, ein gutes Tempogefühl entwickeln. Das steht jetzt an. Eintauchen auch in die Anfeuerungen der Zuschauer, das gibt den ersten Kick. Doch schon bald steht die Fokussierung auf mich wieder an. Gut, dass ich die Streckenführung inzwischen kenne. Nach dem ersten Mal, da weiß man, was einen erwartet. Da ist Respekt vor der Strecke durchaus förderlich. Die langen Passagen, die einsamen Streckenabschnitte, die kommen noch. Noch relativ zu Beginn immer wieder beindruckend: Die lange Lichterkette der Stirnlampen auf dem Weg nach Aarberg. Wie Perlen aufgereiht an einer Schnur. Auch in Aarberg, auf der Brücke, der nächste Kick. Zuschauer feuern uns begeistert an. Dann kommen bald einsamere Streckenabschnitte. Wieder auf den eigenen Laufrhythmus achten ist angesagt. Nicht überziehen. Atem und Bewegung gut im Einklang halten. So schweifen meine Gedanken ab, während meine Achtsamkeit beim Laufen bleibt. Es war unter den Vorbedingungen des Trainings eine gute Entscheidung, rein auf Ankommen zu laufen. Ganz neue Erfahrungen kamen ins Leben. Völlig entspannt und ohne Druck beobachten, wie ein Kilometerschild auftaucht und wieder verschwindet. Die Stunden tauchen auf und vergehen wieder. Die nächste Stunde folgt ganz gewiss. Eintauchen in die Zeit, nur wahrnehmen was ist. Nach einiger Zeit verdichtet sich die Idee zu einer Gewissheit: Ja ich werde vor dem Zielschluss angekommen. So in geschätzt 16 Stunden, da läuft ein Lächeln über mein Gesicht, Freude breitet sich aus. Das erste Drittel des Laufes, da setzte mir die hohe Luftfeuchtigkeit sehr zu. Doch ich kam immer besser in den Lauf. In den Passagen, in denen ich im schnellen Marschschritt ging, da öffneten sich weitere Räume. Ganz anderes Wahrnehmen der Natur, in der Nacht der Sternenhimmel und der fast zum Greifen nahe Mond; das war beeindruckend. Dichtes Erleben. Fokussiert auf die Bewegung und auf das noch so ferne Ziel, machten sich meine Gedanken fast von selbst auf eine Reise.
Scheitern, auch dieses Thema bewegte mich die letzten Wochen. Ein lieber Freund, dessen Schwiegermutter im Sterben liegt, vertraute sich mir an. Der Tod - bislang verleugnet - kam erst jetzt in das Bewusstsein der großen Familie, auch wenn der Zeitpunkt des Todes noch ungewiss ist. Doch von allen wird dies ausgeblendet, kein offener Austausch, nur Verdrängung. Aus der Überlast der Verdrängung und der Lügen entwickelte sich schnell Aggression. Emotionale und seelische Verletzungen folgten. Seine große Frage: Gibt es wenigsten am Sterbebett Vergebung? Es ist gut, dass es viele Familien gibt, in denen dies ganz anders ist. Doch stellt sich mir die Frage, warum derjenige, der oberflächlich gesehen der Auslöser einer Eskalation ist, trotz des Versuchs, sich zu entschuldigen und vielleicht auch erklären will, gnadenlos an den Pranger gestellt wird.
Vergebung, Gnade gewähren, das ist heute in der Gesellschaft so unbekannt geworden. In unserer Gesellschaft ist an die Stelle des einstigen Sünders der Leugner und Verdränger getreten. Die Rituale von Reue und Vergebung gibt es nicht mehr. Dem Verdränger werden auch die Floskeln der Entschuldigung nicht mehr geglaubt. Er bittet nicht mehr um Entschuldigung, er entschuldigt sich selbst in einem Akt angemaßter Autorität. Er will die Lage nur unter seiner Kontrolle halten. Das befeuert eine ungute Spirale von Reue- und Gnadenlosigkeit. Gnadenlosigkeit, mit dem dann der Verdränger weiterverfolgt wird. Ein ganz anderes Bild aus dem Mittelalter: König Heinrich IV hatte es da auf eine ganz andere Art noch einfach: "Barfuß und nüchtern, vom Morgen bis zum Abend" stand er vor Canossa, drei Tage lang, bevor Papst Gregor VII den Bann gegen in aufhob. Es gab, als Quintessenz, den Bußakt, die Reue und das Leben konnte neu weitergehen. Zum Glück ist das Mittelalter vorbei, aber einiges aus dem Fundus der Geschichte zu bewahren, tut uns gut. Dort liegen unsere Wurzeln.
Wir müssen es uns manchmal wieder bewusst machen: Unser Leben ist kein Verdienst, sondern ein Geschenk. Nach der Geburt müssen wir uns nicht selbst ernähren, wir werden gestillt. Ein wunderschönes Erleben zu Beginn des Lebens. Alles Lebensnotwendige empfängt das Baby. Wir sind beschenkt und vertrauensvoll geborgen. Das ist Leben aus Liebe und Gnade. Mit einem ersten Atemzug kommen wir zur Welt, mit einem letzten Ausatmen verlassen wir die Welt. Vielleicht im reinen, ausgesöhnt auch mit den Menschen die wir verletzt haben oder die uns verletzt hatten.
Ich weiß nicht mehr, wie lange ich diese Gedanken in mir bewegt hatte, doch inzwischen nähere ich mich dem 50-KM-Schild. Das ist ein weiterer Höhepunkt! Es geht jetzt nach Hause, so mein Gefühl. Auch wenn nun noch einsame und lange Streckenabschnitte kommen. Ich komme immer besser in den Lauf, frei, voller Freude. Dankbar und voller Demut, dass ich hier diese Möglichkeit auch der Selbsterfahrung geschenkt bekommen habe. In Respekt vor auch all den Helfern und den Menschen, die uns einfach anfeuern, aus Respekt vor der Leistung.
Und irgendwann war es soweit: In meiner Zeit habe ich das 11. Mal gefinisht, ich bin stolz!
Als Quintessenz: Dran bleiben am Leben! Demut entwickeln für die Größe der Schöpfung, wieder erlebbar in dem Lauf durch die wunderschöne Natur. Mit so vielen Facetten, die jedes Jahr entdeckt werden können. Dran bleiben am Leben, auch in Demut vor unserer Vergänglichkeit und mit Blick auf unsere Fehlbarkeit: Respekt vor der Einzigartigkeit jedes Menschen, unseres Gegenüber. Den nächsten Ring und zur gegebenen Zeit auch den letzten Ring versuchen. Im Sport, im Alltag, mit den Menschen, die einem nahestehen. Und auch offen sein für Neues, vielleicht Fremdes, das bereichert. Ohne die eigenen Wurzeln zu verlieren oder zu verleugnen.
Beitrag von Rüdiger Schaller
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