Innehalten - Reise in innere Erfahrungswelten

Veröffentlicht am 30. April 2025 um 17:09

Wenn Dein Kind dich morgen fragt, wonach Du lebst und handelst - was werde ich antworten? Innehalten und nachdenken: Wonach streben wir? Was trägt uns? Um diese Fragen kreisten meine Gedanken schon einige Zeit vor dem Lauf in diesem Jahr.

59. Bieler Lauftage 2017 - Vorweg: Ich habe die Strecke das zehnte Mal erfolgreich absolviert - ein kleines Jubiläum. Nach Biel war ich wieder mal übermüdet gefahren. Die Nacht zuvor unruhig geschlafen, wenig Erholung. Vorstartspannung schon viele Stunden vor dem Start. Ich reiste an mit etlichen guten Wünschen von lieben Menschen. Kurz vor dem Start: Ehrung für Jubilare: 20 Jahre, 25 Jahre - bis zur fünfzigsten Teilnahme. Ein Blick in die Runde: Anerkennung auf Augenhöhe, Respekt und Annahme des Menschen, der vor mir steht. Ob das erste Mal oder wie oft auch immer. Ganz anders als häufig im Alltag erlebt: Selbstgefällige Meinungen und Urteile. Vorverurteilungen, ohne Erfahrungswissen und meist auch ohne Faktenkenntnis.

Rüdiger Schaller vor seinem 10. Start beim 100km Lauf von Biel. Nach 13:11:16 ist er wieder zurück

6 von der LG Seligenstadt kamen an den Start der 59. Bieler Lauftage. Von 2x bis 9x über 100km dabei gewesen lautet die Bilanz der Teilnehmer mit der roten Nummer.

Wonach lebe und handele ich? Erfolgreiche Menschen ob Sportler, Pop-Idole, Unternehmer oder auch starke Menschen wie Dietrich Bonhoeffer können Orientierung geben. Aber alle diese Vorbilder sind auch nur Menschen, die ihr Schwächen, Fehler und Probleme haben. Und nicht zu vergessen: Sie hatten und haben ihr ganz eigenes Leben. So wie jeder von uns sein eigenes, einzigartiges Leben führt. Wenn mein Kind mich fragt, was mir gelingendes Leben ermöglicht, dann kann ich zwar auf Vorbilder verweisen, doch einen letzten Halt können sie mir nicht geben. Soweit kam ich in meinen Gedanken, ich war gut in den Lauf gekommen. Klasse Laufwetter. Urplötzlich erschrecke ich - von rechts kommt eine Rangierlock auf mich zu. Kurze Ablenkung, ich stolpere und stürze zu Boden. Mal wieder auf das rechte Knie und die rechte Hand. Sofort wieder aufrappeln, weiterlaufen. Kurzes Gespräch mit einem Mitstreiter, der sich sofort besorgt an mich gewendet hatte. Keine Schmerzen im Knie, nur Blut, wie auch an der Hand, die allerdings schmerzt. Und das den ganzen Lauf über. Kein Wunder, am nächsten Tag sehe ich die Ursache: Bluterguss im Handballen, Daumen und über das Handgelenk bis in den Unterarm. Im Reflex den Sturz wohl überwiegend mit der Hand abgefedert. Bei den nächsten Samaritern Wundversorgung und Verband, nach knapp einer halben Stunde ging es wieder in die Nacht hinein.

Durch den Sturz war ich völlig aus meinem Laufplan gerissen. Neuorientierung war notwendig, am Tiefpunkt zwischen KM 25 und Oberramsern, dem ersten großen Zwischenstopp. Ich fühlte mich klein und schwach, wollte dort aufgeben. Jeder unebene Streckenabschnitt machte mir Angst - wieder in die offene Wunde fallen, nein. So hatte ich mein Tempo an diesen Stellen drastisch reduziert. Das Laufen wurde so unruhig. Doch in Oberramsern ließ ich mir von den Samaritern nur den Verband am Knie neu fixieren. Dann ging es weiter in die Nacht, begleitet vom Vollmond, der zu dieser Zeit am Himmel zu sehen war. Bis zur Halbzeit, bei KM 50, brauchte ich noch, um mich im Laufen neu auszurichten. In dieser Zeit beschäftigen mich viele Gedanken und Überlegungen zur Laufeinteilung. Doch dann war ich wieder ganz im Lauf, konnte Tempo aufnehmen und mit ganzer Kraft mich auf das Ziel hin ausrichten. Ein tolles Lauferlebnis, gerade auch mit Blick auf den Sturz und dessen Verarbeitung. Warum immer wieder Biel? Kein Hype, kein "immer wieder Neues" für mein Ego sammeln zu müssen in rastloser Jagd; Nein, wie in einer guten Beziehung sich miteinander auseinander setzen. Jeder Lauf ist anders, immer wieder gibt es neues Erleben. So nahm ich dieses Jahr zum ersten Mal die roten Mohnblüten in der Wildwiese kurz nach KM 80 wahr. Neben alle dem, was mich innerlich so beschäftigt hatte. Dann der Zieleinlauf, ein begeisterter Empfang. Die Endorphine, genauer gesagt: Die tiefe Freude und Begeisterung, die tragen mich auch heute noch. Trotz der noch großen Müdigkeit.

Was war es eigentlich, was mich bei KM 38 in Oberramsern bewegt hatte weiterzulaufen? "Du spendest morgen die 100 Laufkilometer und keine 38", so der Impuls, der klar und deutlich in mir aufstieg. 100 KM spenden an das KinderPalliativTeam Südhessen - Frankfurt. Im Rahmen des Deutschland Cups einer Stiftung, die die Palliativarbeit in Deutschland publik machen will. In dem Team werden Kinder bis zum Tode betreut, ebenso die Eltern und die Geschwisterkinder. Vieles wird ehrenamtlich getan, die Spendengelder sind knapp. Kinder, sie können uns daran erinnern, dass unser Leben ein Geschenk ist, nicht verdient, nicht erarbeitet. Als meine Frau und ich unsere Kinder nach der Geburt in den Armen hielten, da haben wir sie so sehr geliebt, dass wir unser Leben für sie geben hätten. Das ist Leben aus Liebe und Gnade. Diese Liebe wiederzuentdecken und mehr und mehr ins Leben zu bringen, das ist eines der lohnenswerten Ziele auf unserer Lebensreise. Wir brauchen dazu unserer Seele nichts hinzufügen, sondern nur Schicht um Schicht das entfernen, was uns daran hindert, aus dieser Quelle zu schöpfen. Wenn mein Kind mich morgen fragt: Wonach handelst du, was bestimmt dein Leben, woher bekommst du Kraft - dann weiß ich die Antwort! Das macht innerlich frei, in aller Bedingtheit, in der wir leben und unser Leben gestalten.

Mal gespannt, was so das nächste Jahr in Biel zu erleben ist. Ich freue mich auch auf die kurzen Begegnungen mit Helfern und Mitstreitern. So wie auf die Jungs aus Seligenstadt; kurze Gespräche am Frankfurter Fernbahnhof. Vielleicht erwächst auch aus diesen Begegnungen Neues.

Beitrag von Rüdiger Schaller - Fotos © LaufReport

 

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