Tanz zwischen Wirklichkeit und Wahrheit

Veröffentlicht am 30. April 2025 um 16:40

Sind wir verrückt? Was für eine freudige Überraschung: Der Zug nach Biel/Bienne fährt gerade im Baseler Bahnhof ein - da taucht unter den wartenden Menschen unvermutet und völlig überraschend Melanie auf. Melanie, meine liebe Arbeitskollegin und inzwischen auch "Wiederholungstäterin". Sie hatte sich am Freitagmorgen spontan entschlossen, sich nachzumelden. Wir sind uns sicher, irgendwas ganz Spezielles, Besonderes, hat dieser Nachtlauf in Biel, der 58. inzwischen.

Melanie wollte eigentlich pausieren, sie hatte an Folgewirkungen eines 24-Stunden-Spendenlaufs vom vorangegangenen Wochenende zu knabbern. Und ich, ich hatte auch so meine Sorgen. Zweieinhalb Monate zuvor, direkt nach Ostern, hatte ich eine größere Schilddrüsen-OP. Danach war ich fast fünf Wochen quasi "außer Gefecht" -Hormonumstellung. Ich war richtig neben mir, nichts ging von der Hand. War gezwungen einfach nichts, wirklich nichts zu tun. Obwohl ich voller Tatendrang war. Die OP war von dem Ergebnis für mich einfach sensationell gut gelaufen. Im Hals Raum und Weite, kein Druck mehr und ein besseres Atmen. Und keine Beschädigung des von Gewebe umwucherten Stimmbandnervs. Ich bin dem leitenden Arzt der endokrinen Chirurgie hier in Wiesbaden dankbar. Achtsamkeit und liebevolle Zuwendung erlebte ich, neben der professionellen Arbeit. Doch auch Leid erfuhr ich im Krankenhaus. In meinem Zimmer lag ein Familienvater aus Äthiopien. Krebskrank, seit neun Monaten. An dem Tag, an dem ich entlassen wurde, kam er auf die Intensivstation. Seine Augen spiegelten beim Abschied die ganze Zerbrechlichkeit und den unendlichen Wert unseres Lebens wieder. Alles ist auf Leben ausgerichtet, auch im Sterben. Das trug ich mit mir die letzten Wochen.

Anfang Mai, da kam ich dann wieder schrittweise ins Leben. Freute mich wieder zur Arbeit gehen zu können. Dort wurde ich von meinem Arbeitgeber sorgsam wieder in den Alltag integriert. Aber das mit dem Lauftraining, das war im Vergleich mit den Trainingsplänen aus dem LaufReport verdammt wenig. Hatte ich überhaupt die notwendige Wettkampfhärte? Was sind die Auswirkungen der OP, der Hormonumstellung? Spiele ich am Ende mit meiner Gesundheit? Völlig unsicher, suchte ich nach einem "Ja" oder "Nein". Auch Ängste spielten hier mit hinein in meine Überlegungen. Drei Faktoren gaben den Ausschlag für mein "Ja".

  1. Die Erfahrung: Bisher neun Starts und achtmal gut ins Ziel gekommen. Auch beim Ausstieg 2010 hatte ich gut auf meinem Körper gehört. Dazu kenne ich die Strecke und habe eine gesunde Demut und einen großen Respekt vor der Distanz und der abzurufenden Leistung entwickelt.
  2. Die Substanz: In den 15 Monaten vor der OP hatte ich mir eine gute Grundlagenausdauer geschaffen, allerdings war das dann doch schon mehr eine Hoffnung als Erfahrungswissen; Quasi das Pfeifen im Walde.
  3. Die Beschäftigung mit der Sinnhaftigkeit meines Vorhabens. Da entdeckte ich zum richtigen Zeitpunkt den Philosophen Khalil Gibran, der sinngemäß gesagt hatte: "Wer die Morgenröte sehen will, der muss die dunkle Nacht durchwandern." Das hat auch etwas mit dem Annehmen der eigenen Ängste zu tun und damit, durch sie hindurch handlungsfähig zu bleiben. Das hat eine ganz andere Qualität, als die Aussage von Kollegen, die sagten: "Wenn ich die Morgenröte sehen will, dann nehme ich mir ein Hotel, schlafe gut und stehe dann einfach früher auf. Dann sehe ich auch die Morgenröte. Wozu sich dann durch die Nacht quälen?" Erfahrungswissen ist eben etwas anderes, das kann man nicht erdenken.
    Meiner Frau gab ich das Versprechen, wirklich nur auf ein gutes Ankommen zu laufen, schließlich habe ich die Verantwortung für meine Familie übernommen. Am letzten Tag, an der die Onlineanmeldung offen war, bekam ich den "letzten Kick" - meine Frau und meine Tochter nahmen an einem Charity-Lauf teil. Ich konnte beide im Zieleinlauf begleiten, da spürte ich sie wieder, die Wettkampfatmosphäre. Meine Teilnahme an diesem Lauf war nicht möglich, da ich zum Startzeitpunkt noch einen Gottesdienst in meiner Rolle als Prädikant gehalten hatte. So blieb mein Kilometerzähler für den Mai bei exakt 197 km stehen.

Tja, und jetzt stehe ich - noch ziemlich nervös - tatsächlich im Starterfeld, letzte gegenseitige Aufmunterungen. Nach dem Startschuss erst mal ein achtsames Einlaufen. Es gilt ein gutes Gefühl für das Tempo zu finden. Das finde ich auch schon auf dem ersten Kilometer - doch ich weiß nicht, wie oft ich mich den ganzen Lauf über ermahnen musste. "Rüdiger, nimm Tempo raus - laufe langsamer!" Eine erste Vorfreude blitzt zaghaft auf: Ich komme ins Ziel, ja ich schaffe das.

Bei Kilometer 2 plötzlich Jubel und Anfeuerung, die mir gilt. Die netten Damen aus dem Team, das unsere Wertsachen in Empfang genommen hatte, feuerten mich an. Wir hatten uns bei der Übergabe der Wertsachen gleich vom letzten Jahr wieder erkannt und uns kurz unterhalten. Das ist ja inzwischen fast schon wie Heimat, hier in Biel. Man kennt sich.

Ich kam weiter gut in den Lauf, doch bei Kilometer 10, kurz vor Mitternacht, zuckten Blitze durch den Himmel. Ein beindruckendes Bild, vor dem Hintergrund der fernen Berge. Doch es war kein Donner zu hören, das Gewitter blieb weit weg. Nur: Es kam starker Gegenwind und heftiger Regen auf. Fast waagerecht mitten ins Gesicht. Erster Reflex: Es gibt Dinge auf der Welt, die können wir Menschen nicht ändern. Es kommt darauf an, wie wir sie annehmen, wie wir mit Ihnen umgehen. Also einfach weiterlaufen, Kopf runter und den Weg mit der Stirnlampe noch gezielter auf Unebenheiten beleuchten. Und so schnell wie das Unwetter aufkam, so schnell war es auch wieder vorüber. Da die Nacht nicht kalt war, hatte die Nässe auch nichts Unangenehmes für mich. Obwohl ich tratsch nass war. Weiter geht der Lauf: Aarberg, Oberramsen, Kirchberg, der Emmendamm, Bibern…..

Wieder ohne Uhr lief Rüdiger Schaller über die Holzbrücke von Aarberg - Fotos von 2015

Ich freue mich innerlich, tauche immer wieder in den Atem und die Bewegung ein, jenseits der Zeit. Natürlich hatte ich - wie im letzten Jahr - meine Laufuhr in der Ladestation zu Hause vergessen; das wird wohl jetzt zum Running Gag.

Dankbar stoppte ich an jeder Verpflegungsstation. Völlig unaufgeregt und gut organisiert stehen uns all die freiwilligen Helfer zur Seite. Nach kurzem Stopp: Weiter geht´s, in Bewegung bleiben.

Bei Bibern, bei km 76, war klar: Trocken komme ich im Ziel nicht an. Dunkle, schwere Regenwolken ziehen auf. Da wird wohl doch noch ein Schauer kommen, unausweichlich. Heftiger und ausgiebiger Regen prasselt kurz darauf auf uns Läufer und die Helfer runter. Aber der Regen ist nicht kalt, sondern erfrischend - es lag noch eine Gewitterschwüle in der Luft. Auch jetzt nur ein kurzer Schauer. Die Folgewirkungen bekam ich an der Aare mit. An dem Fluss angekommen, sehe ich, dass der Feldweg der nach Büren führt, voller Pfützen ist. Teils breiter als der Weg. Nach dem dritten Ausweichversuch, der mich eh nur ins nasse Gras gebracht hatte, hatte ich aufgegeben. Weiter, auch mal mitten durch die Pfützen. Irgendwie macht das auch Spaß. - Ich muss dabei an Kinder denken, mit welcher Wonne sie in Pfützen springen und sich dabei total versauen. Tja, das können wir auch; hier haben wir eben Ultraschlamm. Die Schuhe waren so voller Wasser, die sind noch heute, einen Tag später, immer noch total durchnässt. Mit der Zeit stellten sich Schmerzen in den Füßen und den Fußgelenke ein, das kannte ich noch nicht. Meine Füße waren durch das Wasser angeschwollen. Später, beim Duschen, da passten mir meine Badelatschen nicht.

Doch mehr als entschädigt wurde ich durch die Eindrücke der mich umgebenden Natur. Auf der einen Flussseite: Blauer Himmel, gesprenkelt mit Kumuluswolken. Auf der anderen Seite schwere Regenwolken in den Berghängen. Dazu der Blick auf die ruhig fließende Aare, die dieses Jahr viel Wasser führt. Zwei Schwäne treiben auf dem Wasser und putzen sich ihr Gefieder. Und ich stehe schon in der nächsten Pfütze. Ich weiß nicht warum, ich freue mich die ganze Zeit über. Mir geht es einfach gut. Ich genieße die letzten Kilometer in vollen Zügen, sauge alle Eindrücke auf. Nochmals ein kurzer schwerer Schauer bei meinem Zieleinlauf.

Die Helferin, die mir die Finishermedaille umhängt fragt gleich besorgt, wie es mir geht. Sie ist zumindest leicht erstaunt über meine Antwort: "Saugut, es geht mir einfach saugut!" Ich bin total glücklich: Ziel voll und ganz erreicht! Die Zielzeit spielt keine Rolle - das war mein bester Lauf bisher. Fürsorglich geleitet die Helferin mich noch in das Zelt direkt neben dem Zieleinlauf. Letzte Getränke- und Nahrungsaufnahme. Dann sofort unter die Dusche und mit dem Zug nach Hause. Es wartet schließlich ein saftiges Pfefferrahmsteak mit knusprig gebratenen Kartoffeln und süffiges, prickelndes Weißbier. Traditionell im Dotzheimer Turnerheim. Dann, ja dann wartet noch mein kuscheliges Bett auf mich, nach 40 Stunden ohne Schlaf.

Mein Fazit: Wer sich über die Wirklichkeit nicht hinauswagt, der wird nie die Wahrheit erobern!

Beitrag von Rüdiger Schaller - Fotos © LaufReport

P.S.: Später, auf der Rückfahrt, bekam ich noch eine SMS-Nachricht von Melanie. Sie hat auch gefinisht, nach einem großen Kampf. Mit ganz anderen Erfahrungen. Ich bin beruhigt und die Sache ist jetzt für mich ganz rund. Es freut mich zutiefst im Herzen, dass Melanie da jetzt durch ist und sie sicher auf dem Heimweg ist.

 

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