Der Tag danach: Im ganzen Körper pulsieren die Endorphine, wissen noch nicht so genau, wohin mit der ganzen Bewegungsenergie. Gepaart mit einer noch ziemlich großen Müdigkeit. Alles ist irgendwie langsamer. Nach dem Lauf war ich in der Heimat von Conny und Jürgen, meinen Pfarrers und Freunden, zu der Feier Ihrer Silberhochzeit eingeladen. Da musste ich auf jeden Fall nach dem Lauf noch hin. Es war ein wunderschöner Abend.


Walter Wagner, Chef des LaufReport, kurz vor dem Lauf getroffen
Euphorisch werden die ersten Kilometer angegangen, wie auch hier von Thomas Disser, Mitveranstalter vom Seligenstädter Wasserlauf in Deutschland über 25 km
Und heute am Tag nach dem Lauf tauchen immer wieder Erinnerungen an Begebenheiten während des Laufes in Biel auf. Verdichten sich zu einem Gesamtbild, einordnen der Erfahrungen. Alles Erleben heute ist durchwoben von dem Gefühl eines tiefen Friedens.
Rückblende: Unfall mit meiner Vespa im September - irgendwie hörte ich im Krankenwagen noch den Verursacher sagen: " Der war wohl im toten Winkel". Ein Blick in den Rückspiegel hätte genügt, um mich zu sehen. Er war rückwärts vom Bordstein gefahren. Es folgten Wochen voller Schmerzen, nach dem die Prellungen abgeklungen waren, wurden weitere Untersuchungen notwendig. Am Ende folgte eine beidseitige Leisten-OP Ende November. Wochen voller Schmerzen, vollgepumpt mit Schmermitteln und lahmgelegt in der Bewegung. Kurz vor dem Unfall war ich noch den Fränkischen Schweiz Marathon gelaufen.
"Ich will das alles nicht", das dachte ich halb unbewusst und verzweifelt auf dem Weg zur OP. Kaltes Licht und schnelle harte Bewegungen. Ich fror und zitterte am ganzen Körper. Doch die OP und die Wundheilung verliefen sehr gut. Nach einer von den Ärzten verordneten Wartezeit war dann kurz vor Weihnachten wieder an den Beginn eines leichten Lauftrainings zu denken. Langsames Traben über 5 km - mir war, als müsste ich das Laufen komplett neu erlernen. Irgendwie, als wäre da eine andere Statik im Körper. Doch ab Januar konnte ich wieder gut an der Grundlagenausdauer arbeiten; Tempotraining, das hatte ich abgeschrieben und auf den Herbst vertagt. Ende Mai war ich mir sicher, wieder gut und stabil in Biel laufen zu können. Seit diesem Zeitpunkt wuchs täglich die Vorfreude auf die Nacht der Nächte. Auch die Arbeitskollegen können davon ein Lied singen. Ich war mir sicher: Das wird ein Kracher; das wurde es auch - allerdings ganz anders, als ich mir das vorgestellt hatte.
Der Lauf: Beim Einsteigen in den Zug nach Biel durchfuhr es mich wie ein Blitz - "Mist, ich habe meine Laufuhr in der Ladestation zu Hause vergessen". Hektisches Wühlen in der Sporttasche bestätige es nur. Ja, an alles gedacht, nur die Uhr, die hatte ich vergessen. Keine Chance mehr, um sie noch zu holen. Annehmen des nicht Änderbaren, wie schon in der Rückblende aufgezeigt, und das Beste draus machen, aus Eigenverantwortung. Da half eben auch kein Plan B. Nein, mit der Armbanduhr laufen, dass wollte ich nicht. Also laufen pur, nur mit den Laufschuhen, Socken, Hemd und Hose. Selbstverständlich für Biel auch die obligatorische Nachtlauflampe am Körper. Meinen Entschluss bekräftige auch Walter Wagner, Chef des LaufReports: "Laufen ist ohne Uhr". Ihn und seine Frau Constanze hatte ich kurz vor dem Lauf getroffen. Über die kurze Begegnung mit den Beiden hatte ich mich sehr gefreut, ich mag beide.
Zum Start kam dann noch die Info, dass sich die Gewitter verzogen hätten und wir Läufer durchaus die Chance auf eine sternenklare Nacht hätten. So ging ich fast euphorisch die ersten Kilometer an, die Beine gut und ein gutes Gefühl für das eigene Tempo. Kurze Gespräche mit Melanie Schulze, einer ganz lieben Arbeitskollegin, die auch letztes Jahr schon dabei war. Dann verloren wir uns an einer Verpflegungsstation aus den Augen. Das war auch der Zeitpunkt, an dem ich Zweifel bekam. Es war mir zu schwül und ich verlor ziemlich viel Flüssigkeit. Nach der zweiten Verpflegungsstation konnte ich schon keine feste Nahrung mehr zu mir nehmen. Bei jedem Halt musste ich fast einen Liter trinken. Ich glaube, nur die gute Schweizer Gemüsebouillon - einer der Tipps aus dem LaufReport - hatte mich ernährungstechnisch über die Strecke gerettet. Erst ab Kilometer 78 kam konstanter etwas frischer, kühlender Wind auf. Vorher kaum ein Lüftchen und keine Abkühlung, selbst nicht in der tiefen Nacht und auch nicht gegen Morgen. Auch die paar Tropfen Regen die während der Zeit, in der ich entlang des Emmendamms lief, blieben vorwiegend in dem Blätterwerk hängen. Mehr nur eine Ahnung von Erfrischung. Die holte ich mir in Büren, an dem Brunnen. Klares und kühlendes Wasser, zunächst die Hände, dann die Arme, der Nacken und die Stirn. In der Zwischenzeit hatte der Wind die dunkle Wolkendecke beiseitegeschoben und die leichten Schleierwolken, die sich ausgebreitet hatten, lösten sich in der Sonne auf. Es wurde ab Kilometer 90 warm, sehr warm.


Ich glaube, nur die gute Schweizer Gemüsebouillon hatte mich ernährungstechnisch über die Strecke gerettet
Erfrischen mit klarem und kühlenden Wasser am Brunnen in Büren an der Aare
Meine anfänglichen Zweifel, so zwischen den Kilometern 30 und 40 verflogen plötzlich. Aus meinem Bauch breitete sich ein Lächeln aus: Ich wusste da sicher, dass ich ans Ziel komme. Das hing auch mit dem Laufen ohne Uhr zusammen. Einfach in Bewegung bleiben, auf ein Ziel hin ausgerichtet. Aber keine Gedanken mehr über Zwischen- und Zielzeiten, die noch anfänglich da waren. Keine Hochrechnung von aktueller Durchschnittsgeschwindigkeit auf den nächsten Streckenabschnitt. Nein, mehr und mehr völlig frei von allem inneren Druck - welch eine Macht doch Gedanken haben können. Ein ganz neuer Erfahrungsraum öffnete sich für mich: Weit und klar. Aus diesem Raum konnte ich alles während des Laufes wahrnehmen. Meine Annahme der Witterungsbedingungen und auch den Kampf mit dem Schmerz im linken Knie. Auf dem Emmendamm war ich gestolpert, anscheinend eine Dehnung des Außenbandes. Ich suchte ein passendes Tempo und steigerte meine Achtsamkeit beim Setzen jedes Schrittes. Nach etlichen Kilometern hatte ich es raus, wie ich laufen musste und konnte fast schmerzfrei weiter laufen. Dann kam ab so Kilometer 80 etwas Neues hinzu: Die Waden schmerzten zunehmend. Zunächst ein Wechsel zwischen Gehpausen und Traben. Dabei auch hier die Einflüsterungen "Geh doch bis ins Ziel" hören, doch wieder weiter ins Laufen kommen. Nicht jeder Kilometer musste gelaufen werden, nein, jeder Schritt musste neu gesetzt werden; immer wieder. Und dabei, trotz allem Kampf, auch das Schöne wahrnehmen, wie die drei weißen Schwäne, die sich auf dem Wasser der Aare im Sonnenlicht treiben ließen. Das alles nahm ich mit und alle Emotionen explodierten im Zieleinlauf - Wahnsinn, was für eine Leistung, was für eine Freude und welch eine Erfahrung: Es ist wohl schon ein Geschmack von Selbsttranszendenz dabei gewesen, bei diesem Lauf. Sich selbst nicht so wichtig nehmen, hinter die Gedanken sehen und fokussiert in Bewegung bleiben - alles umhüllt und eingebettet in einen tiefen Frieden, der sich richtig, stimmig und kraftvoll anfühlt.


Und dabei, trotz allem Kampf, auch das Schöne wahrnehmen. Auch dieser Erlebnisläufer sprang und tanzte 13,6 Kilometer lang. Dance Walk ist mehr als rückwärts
Noch eine abschließende Beobachtung vom Tag danach: Ich fuhr mit meiner Vespa Brötchen und anschließend leckere Erdbeeren einkaufen. Auf dem Rückweg sah ich Eltern mit ihren Kindern auf dem breiten Gehweg; die Kinder sprangen und tanzten vor Freude herum. Ich freute mich innerlich mit. Bewegung und Freude, das ist Leben. Das kann nur aus dem Inneren heraus kommen und sich dann in der jeweils gemäßen Form im Leben widerspiegeln.
Ein Dank an Alle, die uns mit ihrem persönlichen Einsatz freiwillig und ehrenamtlich solche Erfahrungsräume schaffen und anbieten.
Beitrag von Rüdiger Schaller - Fotos © LaufReport
p.s.: Was sage ich nur meiner Laufuhr? Ich hatte sie ein paar Tage vor Biel gekauft, die alte Uhr war defekt. Und heute hatte mich meine neue Uhr, so eine mit vielen Features, beim Auslaufen gelobt! Ja, die neue Uhr lobt mich: "Top: Die längste Strecke!" oder "Prima: Die schnellste Runde", so als Beispiele. Sie hat von dem Lauf in Biel ja nichts mitbekommen - und soll ich ihr nur sagen, wenn der nächste längere Trainingslauf durchgeführt wurde, so über 25 / 26 Kilometer?
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