Ziel erreicht - eigenes Zeitziel klar verfehlt, doch ein großer Erfolg nach großem Kampf. Erfahrungen jenseits des Messbaren. Gut vorbereitet mit klarem Ziel vor Augen und beste Witterungsbedingungen mit Aussicht auf eine helle Vollmondnacht: Das wird ein Kracher! Der 56. Bieler Lauftag.
Doch ab KM 10 kommen immer mal wieder Bauchschmerzen auf, werden stärker. Vier Mal eine Mobitoi gerade noch erreicht. Da verließ mich doch der Mut und wurde schwach, ab KM 35 erste Gedanken an ein Aufgeben. Das Zwischenziel in Oberramsern noch erreichen, dann ist Schluss!

"Die Ambiance im Stadtzentrum ist einfach toll", schwärmt OK-Präsident Etter
Mal schmeichlerische Gedanken: "Da werden Dich viele loben, so ein vernünftiger und verantwortungsbewusster Mann", dann folgen massive und drohende Bilder: Ich sehe meine eigene Beerdigung, dabei werde ich angeklagt: "Wie konnte er nur unachtsam sein und völlig überziehen?"
Kurz nach Oberramsen war unter dem Eindruck dieser inneren Bilder der Impuls umzudrehen und abzubrechen stark, sehr stark. Doch in dem Moment tauchte in der Nacht das 40KM-Schild auf. Loslassen vom Plan, tiefer gehen. Was motiviert? Plan B musste am Tiefpunkt entwickelt werden. "Wenn Du jetzt gehst, dann brauchst Du noch 12 Stunden, dann bist Du um 15 Uhr im Ziel - das langt noch bis zum Zielschluss." Und dabei immer die Option: Nur von Zwischenstation zu Zwischenstation - Aussteigen geht da immer, dann wenn es tatsächlich nicht mehr geht. Und eines gilt: Jeder Schritt bringt Dich dem Ziel näher, bleib mit Deiner Achtsamkeit im Augenblick.
Während der ganzen Zeit kam ich immer wieder zurück in eine meditative Innenschau. Die dies alles beobachtet und wahrnimmt. Und dann immer wieder auf den Körper zurückkommt. Die Beine sind in Ordnung und noch kraftvoll.

Entlang der Aare die Morgendämmerung genießen
Bis auf die Magenschmerzen, die, so nehme ich es nach einer Weile wahr, immer kurz nach den Verpflegungsstationen auftreten, ist alles in Ordnung. Ich nehme nun keine feste Nahrung mehr zu mir bis der Magen leer ist. Experimentiere mit den Getränken, bis ich den richtigen Mix habe. Ab ca. KM 80 hat sich der Magen wieder weitestgehend beruhigt und ich kann auf die letzte Teilstrecke gehen. Und der Endspurt hatte noch einige verborgene Kräfte freigelegt.
Durchwoben und begleitet war dieses ganze Erleben von starken Impressionen: Der Lauf durch die Bieler Innenstadt, dann später durch die Nacht. Ab ca. 1.00 Uhr begleitet vom klaren und hellen Schein des Vollmondes, der die ganze Natur in ein fast geheimnisvolles Licht tauchte. Später ein sanfter Übergang über das Morgenrot in den sonnendurchfluteten Himmel mit der wärmenden Sonne.

Mit der Sonne kommt die Wärme, steigt die Zuversicht
Getragen auch von Begegnungen. Zunächst eine liebe Arbeitskollegin, Erststarterin in Biel. Einige Male liefen wir für eine kurze Zeit nebeneinander und tauschten uns aus. Dann nahm ihr Mann, der sie auf dem Fahrrad begleitete, meine defekte Stirnlampe, die mich nervte, in Verwahrung. Später bin ich, jenseits der 40KM-Marke, in einem dunklen Waldstück gestolpert und gestürzt. Helfende Hände waren sofort zur Stelle: Ein Läufer einer Militärpatrouille, der direkt hinter mir lief, reichte sofort mir die Hand und half mir beim Aufstehen. Stiller Fluch, kurzer Check: Zum Glück nur eine leichte Schürfwunde am Knie und am Ellenbogen. Weiter geht es durch die Nacht dem Ziel entgegen.
Es kam die Zeit der andauernden Positionswechsel. Spätestens nach dem dritten Wechsel nahmen die Läufer Kontakt auf. Aufmunternde Worte: "Wir sehen uns im Ziel, bis dann!" Einmal bei einer kurzen Gehpassage fühlte ich eine sanfte Berührung an meiner Schulter. Ein Mitläufer munterte mich auf. Einige Zeit später konnte ich die Aufmunterung an ihn wieder zurückgeben.

Irgendwo kurz nach KM 90 bei Safern trafen wir uns
Nicht zu vergessen alle die Zuschauer, die uns über die ganze Strecke hin anfeuerten, wie auch die vielen ehrenamtlichen Streckenposten. Ein aufmunterndes "Bravo" hilft, tut gut. Zu guter Letzt noch eine weitere schöne Begegnung: Constanze und Walter Wagner, die rast- und ruhelosen Laufreporter vom LaufReport. Irgendwo kurz nach KM 90 trafen wir uns und tauschten uns eine Weile aus, dann ging es weiter. Weiter ins Ziel, mit einer vor Stunden bei weitem nicht mehr erwarteten, für mich guten Zielzeit von 13 Stunden, 16 Minuten und 6 Sekunden.
Laufzeit, Zeit des Laufens: Gelegenheit den Kopf, ähnlich wie bei einer Arbeitsmeditation, aufzuräumen. Den Kopf frei bekommen, weitere Lebensentscheidungen treffen und wieder ein Stück mehr in Verantwortung gehen. In der meditativen Betrachtung der Innenschau Sedimente von Altem, noch nicht verarbeiteten aufsteigen sehen und erkennen: Ich bin der Herr in meinem Haus. Bis zu einem Punkt, an dem etwas ganz anderes, größeres mit ins Spiel kommt. Weit und voller Frieden, Quelle stiller und tiefer Freude. Leuchtend wie der Mond und wärmend wie die Sonne. Ich bin gespannt, wie dies weiter in mein Leben ausstrahlt.
Beitrag von Rüdiger Schaller - Fotos © LaufReport
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