Laufen als Spiegel der Seele

Veröffentlicht am 27. April 2025 um 16:12

Laufen als Spiegel der Seele: Am Tiefpunkt - das Ziel aus den Augen verloren; Ausstieg bei km 56. "Warum tust Du Dir das an?" So oder so ähnlich wurde ich im Vorfeld öfters gefragt. Grippeinfekt im November, das ging an die Substanz. Wieder ran gekämpft - doch im Januar der nächste Tiefschlag:

Ein Abszess musste aus dem Rücken geschnitten werden. Wieder Pause, bis die Wunde geheilt war. Der nächste Anlauf folgte. Schwer fiel der Marathon in der Vorbereitung im Mai. Doch es ging langsam weiter aufwärts, nach langen Wochen des Trabens durch Schnee und Eis. Dann zum dritten Mal ein "Stop": Fußprellung. Zwei Wochen voller Schmerzen. Selbst an normales Gehen war kaum zu denken. Bis zwei Wochen vor dem Start.

Der 52. 100-km-Lauf von Biel 2010:

Vorfreude, dann zu Beginn der Nacht der Nächte: Vorsichtiger Start und keine Schmerzen beim Laufen. Aber die Substanz hat nicht gereicht. Es war drückend in der Nacht und auch der mentale Akku war leer; sehr leer nach monatelangen Dauerstress im Job. Auch hier das Ziel aus den Augen verloren. Erst jetzt, im Ringen mit mir - aufgeben oder doch weiter machen, zumindest bis km 76 - wird mir bewusst: Hier ist eine Grenze, darüber hinaus kann es ungesund werden. Mir fielen auch all die Ratschläge und Tipps aus dem LaufReport ein, jetzt war das alles aus dem Kopf ins Leben gekommen; Erfahrungswissen. Dieses "Nein" gleicht einem "Ja" für mich, meine Gesundheit. Dennoch mit schwerem Herzen gab ich den Transponder ab, doch auch irgendwie erleichtert, diese Entscheidung getroffen zu haben.

In Biel mit dem Shuttlebus angekommen verfolgte ich wehmütig einige Zieleinläufe. Schade, da wollte ich doch auch einlaufen. Ja, die Begeisterung der Finisher, die konnte ich gut nachvollziehen. Diese Distanz, die 100km, zu bewältigen, auf diesem unvergleichlichen Rundkurs: Es ist und bleibt eine Leistung, die zutiefst Respekt einfordert. Es ist schon Wahnsinn, diesen Lauf über so lange Zeit, über mehr als 50 Jahre, auszurichten. Immer wieder die vielen Helfer zu aktivieren, die jeden Läufer begeistert empfangen, versorgen und anfeuern. Ja, es ist fast nicht zu glauben, aber es ist wahr: Dieses Ereignis durchwebt etwas Faszinierendes, Einzigartiges. Das gilt es für jeden Läufer selbst entdecken; immer wieder neu. Jetzt, Monate nach dem Lauf, nach Urlaub und Wochen der Regeneration steht für mich fest: Auf geht´s, Biel 2011 ruft.

Während ich diese Zeilen schreibe, tauchen vor meinem inneren Auge Erinnerungen auf, wie Perlen an einer Schnur. Erinnerungen aus den letzten Jahren, an Stationen, an Begegnungen, ja auch an die Zieleinläufe. Meine Vorfreude steigt. Mich wieder dieser Herausforderung zu stellen, das hat etwas Besonderes; gerade auch nach meinem Scheitern. Diesen Wettkampf, den macht man nicht so nebenbei. Dazu gehört auch die ganze Vorbereitung mit ca. 2.000 Trainingskilometern. Herbst, Winter und Frühling gilt es zu durchlaufen. Mit all den wechselnden Eindrücken. Der Geruch des Herbstes mit all seiner Farbenpracht in den Wäldern, die kalte, klare Luft im Winter - vielleicht wieder mit schneebedeckten Weiten - und das Aufblühen der Natur im Frühling; mit dem so frischen ersten Grün. Leben im Lauf der Zeiten. Und: Laufen als Spiegel der Seele. Wieder das eigene Lebensziel anvisieren, ihm entgegen gehen. Unterstütz und begleitet mit dem Lauftraining und der Ausrichtung auf das große Ziel: Finishen in Biel!

Dabei über die langen Zeiten auch der Vorbereitung wieder mehr auf den Gleichklang von Geist, Körper und Seele achten und unverdrossen dabei neben dem Körper vor allem die Schulung des Willens trainieren. Übertragen ins Leben: Ausrichtung am Wesentlichen. Auf ein Ziel fokussieren und es durch alle Höhen und Tiefen mit allen Wechselfällen des Lebens nicht aus den Augen verlieren. Aus Eigenverantwortung geboren: Noch bewusster für mich und meine Gesundheit, auch die seelische, sorgen. Und die innere und äußere Balance mehr achten, als das letzte Jahr. Das ist eine der Lehren aus dem letzten Jahr.

Eines bewegt mich noch, analog der Frage im LaufReport, warum es nur 1260 Finisher waren, dieses Jahr. Öfters in den letzten Monaten, im Gespräch mit anderen Läufern bekam ich im Wesentlichen folgende zwei Aussagen. Erstens: "Biel? Wo ist das?" Und gepaart mit Überraschung, die sich in ungläubigem Kopfschütteln äußert: "Einen 100km-Lauf, echt so was gibt es?" Zweitens: "Nein, dass ist mir unmöglich, 100km zu laufen. Ich bin doch schon nach einem Marathon, nach 42km, völlig platt." Weiterhin lag es jenseits ihrer Vorstellung, auf so einen Lauf hin zu trainieren. Da müsste ja ein wahnsinniger Trainingsaufwand betrieben werden. Ein vorsichtiger Hinweis von mir auf meine Trainingsumfänge aus dem LaufReport machte einige nachdenklich.

Vielleicht lassen sich hieraus ja einige Überlegungen für die Vermarktung ableiten. Aber vielleicht muss so ein kleiner Kreis bestehen bleiben, um aus dem Besonderen keine überlaufene Massenveranstaltung zu kreieren? Es bleibt nun schon seit über einem halben Jahrhundert dabei, dass gerade dieser Lauf, die 100km von Biel auf jeden Fall etwas Besonderes sind. Eine besondere Herausforderung. Ich wünsche den Veranstaltern noch viele erfolgreiche Durchführungen und gutes Gelingen. Mal gespannt, wie die angekündigten Veränderungen im nächsten Jahr greifen.

Beitrag von Rüdiger Schaller - Fotos © LaufReport

 

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