Die Seele des Ausdauerläufers

Veröffentlicht am 27. April 2025 um 16:04

"Was, Du läufst 100km? An einem Stück?" Meist winken die Fragenden ab. Hin und wieder setzt es auch Sprüche wie "Dazu habe ich ein Auto" oder "Du Armer". So bleibt das Gespräch, die mögliche Begegnung von Menschen, an der Oberfläche. Doch es gibt auch seltene Augenblicke, in denen sich eine Türe öffnet, im Versuch des Verstehens des Anderen.

Echtes, tieferes Interesse, auch Unbekanntes zu zulassen und sich diesem nähern, das ist der Impuls, der weiterträgt. Vielleicht ist das Annähern zunächst eher skeptisch, das ist in Ordnung.

Der 51. 100-km-Lauf von Biel 2009

Vorgeschichte

Viele Facetten gibt es zum Thema Ausdauerlauf – wo anfangen? Rückblende: Angefangen hat die ganze Geschichte vor etlichen Jahren. Im Weglaufen. Im Laufen in die Verhärtung. Unstrukturiertes und unregelmäßiges Laufen. Kürzere Strecken, maximal ab und an mal 20 Kilometer. Alles ohne Plan und ohne echtes Ziel. Kampf war angesagt. Schmerzen wurden verdrängt oder mussten überwunden werden. Bis der Körper "Nein" sagte. Nein: "So nicht!". Laufen wie das Leben – bis zum Herzinfarkt. Dies zu sehen dauerte Jahre der mitunter auch schmerzlichen Erforschung des eigenen Selbst, der eigenen Schatten. Der Weg ging tief in die Dunkelheit, bis zum Burn-Out. In die fast vollständige Erstarrung; zurückgehaltene Lebensenergie. Doch das ist eine andere Geschichte, aus vergangenen Zeiten. Mehr dazu an anderer Stelle. Allerdings reicht aus diesen Zeiten etwas Wichtiges in das Heute hinüber: Aus dieser Zeit stammen die Wurzeln für eine heute ausgeprägte Wahrnehmung des eigenen Zustandes beim Laufen. Es ist wie ein feines Messinstrument in mir, das die Balance zwischen Verhärtung und Öffnung achtsam wahrnimmt. Diese Wahrnehmung geschieht fortwährend und meist unbewusst. Wenn der Zustand beim Laufen in die Verhärtung kippt, dann wird mir dies fast sofort bewusst und ich kann gegensteuern.

Gesundheitsvorsorge

Laufen, das wurde wieder aufgenommen; anders als zuvor. 110 Kilogramm zeigte die Waage, das waren mindestens 25 Kilogramm zu viel. Die Gesundheit war angeschlagen. Nach monatelangem Ringen sackte eine schon lange bewusste Erkenntnis aus dem Verstand in das Herz: "Es kommt niemand vorbei, der für Deine Gesundheit sorgt. Dass kannst nur Du selbst tun. Im Rahmen dessen, was Menschen möglich ist." Ja, das war´s – dass musste erst mal in das Leben integriert werden! Daraus erwuchs eine Selbstverpflichtung: Wieder in Bewegung kommen; für mich. Leben ist Bewegung. Jeder Schritt bekräftigt und erneuert diese Entscheidung. Laufen gleicht so einer Meditation.

Während ich diese Zeilen schreibe, schweifen meine Gedanken ab. Heute Morgen ist ein mir nahestehender langjähriger Arbeitskollege an einem Herzinfarkt gestorben. Mit 55 Jahren. Die Einschläge kommen näher. Ein Aspekt: Weiter konsequent der Selbstverpflichtung "Ich sorge für mich, für meine Gesundheit" folgen. Immer mit dabei der EGK-genaue Herzfrequenzmesser mit der Pulsuhr; dass hatte ich versprochen, da ich oftmals dazu neigte, zu überziehen und die Signale des Körpers verdrängte. Nun ist dieses Hilfsmittel hochwillkommen – weicht mal im Wintertraining die Pulsfrequenz um ca. 10 Schläge nach oben ab, im Vergleich zu sonst, dann sind dass Vorboten eines Infektes. Dann wird das Training sofort reduziert und auskurieren ist angesagt. Vieles wäre noch anzufügen, doch das kann in der einschlägigen Literatur nachgelesen werden; z.B. die Zusammenhänge von Sport und antioxidativem Zellschutz (Quelle: http://www.laufreport.de).

Wichtig bei alledem ist eine zunehmend gut ausgeprägte Wahrnehmung des Körpers, regelmäßige ärztliche Kontrolluntersuchungen und das konsequente Einhalten der regenerativen Trainingseinheiten. Das baut auch mentalen Stress ab. Dazu als notwendige Ergänzung in einem Fitnessstudio mit qualifizierten Trainern zielgerichtetes Krafttraining für den ganzen Körper. Nach zweimaligem Meniskusriss ist das für mich heilsam gewesen. Die Knie, selbst nach 100 km: Stabil und schmerzfrei – was für ein Geschenk! Dazu noch passende Laufschuhe durch hervorragende Berater ausgewählt. Keine Blasen oder sonstigen Probleme: Laufen kann so zur puren Freude werden. Ergänzend noch, im Rückblick: Ein wichtiger Baustein war, dass ich mir die Zeit gegönnt hatte, meinen Körper, alle Muskeln und auch die Bänder und Sehnen, ja meinen ganzen Organismus, langsam an die steigende Belastung zu gewöhnen. Das wurde mir dieses Jahr bewusst, da hatte ich das zweite Mal den gleichen Trainingsplan absolviert. Mir viel auf, dass es mir deutlich leichter gefallen war, das vorgegebene Pensum zu absolvieren. Es ist, als ob der Körper sich erinnert.

Wertehierarchie

Für mich sorgen: Meine Gesundheit ist das höchste und kostbarste Gut, dass ich habe! Aus ihr heraus Familie, Beruf und soziales Umfeld gestalten; aktiv, kraftvoll, mit Freude. Trotz vieler Probleme und Schwierigkeiten, die das Leben an sich mit sich bringt. Und das auch weiterhin bei abnehmenden Kräften im zunehmenden Alter. Stress und Frust locker weglaufen, frei werden. Das tut unendlich gut. Und: Ab einem gewissen Trainingsstand fällt das Laufen oftmals leicht, ja man kann auch in Kontakt kommen mit einem Zustand des "ich werde gelaufen". Das verbindet mit der Natur, mit Gott. Ab und an auf längeren Strecken eintauchen in einen Raum, in dem Zeit und Raum scheinbar aufgehoben sind, die Grenzen verschwimmen. Eins sein mit allem, als Vorgeschmack auf Kommendes. Der Körper wird dabei wieder wahrgenommen, als das was er ist: Als Tempel der Seele. Für diesen habe ich zu sorgen. Laufen wird so zum Körpergebet.

Trotz des hohen Stellenwertes auch hier die Aufgabe, wachsam zu bleiben. Prinzipientreue darf nicht in Starrsinn mutieren. Das heißt, wohl an der hohen Wertigkeit festhalten und die Trainingseinheiten möglichst konsequent planen und einhalten. Doch es muss Raum bleiben, für Unvorhergesehenes. Nur Beliebigkeit hat keinen Platz. Da bietet die Grundentscheidung, besser gesagt Grundausrichtung, im Zweifelsfalle die notwendige Orientierung. Die Gesundheitsvorsorge für Geist, Körper und Seele ist an höchster Stelle der Wertehierarchie verankert.

Ertrag

Nun, da inzwischen das 5. Jahr als Ausdauerläufer angebrochen ist und inzwischen über 10.000 km zurückgelegt sind, ist es offensichtlich, dass da etwas mit Nachhaltigkeit in das Leben gekommen ist. Wenn vor jedem der über 700 Läufe – nicht jeder ist mir leichtgefallen – ein innerer Schweinehund zu überwinden wäre, dann könnte die an den Tag gelegte Konsequenz schwerlich gelebt werden. Die Couch und die anderen süßen Verlockungen, besser gesagt die Ablenkungen vom Wesentlichen, hätten längst gewonnen. Doch die Lebens- und Erlebensqualität ist deutlich, ja dramatisch, höher als zuvor. Kürzere Erholungsphasen und das Einbringen der zuvor gehaltenen Lebensenergie in den Alltag sind ein Ergebnis. Für Menschen, die das noch nicht erlebt haben, hört es sich bestenfalls paradox an: Trotz der in das Laufen investierten Zeit habe ich mehr Zeit für das Leben. Genau das ist eines der Geheimnisse. Das kann man im Kopf nicht erdenken, dass kann man nur erfahren; am eigenen Leib. Und das was getan wird, wird in besserer Qualität und kürzerer Zeit erledigt. Der Kopf ist freier – Ideen sprudeln nur so, spätestens ab km 10 – und der Körper ist belastbarer. Er regeneriert schneller als zuvor. Auch kann ich wieder Schuhe im Stehen binden – das war vor 5 Jahren nicht mehr möglich.

Von großem Nutzen ist die mit dem Laufen einhergehende Schulung des Willens, der Willenskraft. Gerade bei einer langen Strecke gilt es, das Ziel im Auge zu behalten und gut anzukommen. Auch bei innerlich aufkommenden Widerständen und Ablenkungen. Oder dem Gedanken an Aufgabe: Schnell mal in die Kneipe neben der Straße und ein kräftiges Steak mit Weißbier – das wär´s doch, nicht wahr? Es ist schon spannend, was unser "Mind" uns so vorgaukeln kann. Zu erkennen, was wirklich ist, das ist die Aufgabe. Und dann, wenn es schwer fällt, sich immer wieder auf das Lauftempo, die Schrittfrequenz und -länge und den Atemrhythmus fokussieren. Der nächste Schritt geht immer! Das gilt für den "Mind", nicht für den Körper. Dessen Warnsignale sind mehr als nur Ernst zunehmen.

Über die Fokussierung auf das reine Laufen gelingt es wieder in gutem Kontakt mit dem Körper und dem Boden zu kommen. Diese Erdung im "Hier und Jetzt" hilft weiter und tut gut. Im Alltag bringen mich diese bewusst gestalteten Erlebnisse und Erfahrungen vor allem in verfahrenen Situationen – ob im Beruf oder privat – weiter. Beispielsweise bei lange laufenden Projekten, in Tiefphasen, dann wenn es nicht richtig rund läuft: Mut gewinnen durch Rückblick auf einen der letzten Ultraläufe – jetzt fühle ich mich gerade wie bei Kilometer 38 und es sind noch über 60 Kilometer zu laufen. Aber ich komme ins Ziel! Das ist auf eine bestimmte Art und Weise gewiss.

Auch mein Lebenslauf, der soll ins Ziel kommen! Hierbei ist ein wesentlicher Faktor die Geduld. Auch die Geduld wird geschult. Ich kann bei Kilometer 45 nicht schon im Ziel sein, das dauert. Es ist je nach körperlichem Zustand, mitten im nächtlichen Leistungstief, noch verdammt lange bis zum Ziel. Das kann man gar nicht mehr denken. So muss ich meine Aufmerksamkeit immer wieder auf das "Hier und Jetzt" richten. Und trotzdem in Bewegung bleiben. Kontakt bei jedem Schritt mit der Erde machen, die mich trägt. Geerdet sein, unterstützt von Meditationstechniken. Diese auszuführen würde hier zu weit führen.

Warum um Himmelswillen 100km?

Die Seele läuft mit! Getragen von der Sehnsucht des Herzens. Zuhause ankommen, das ist das Ziel der Bewegung. Heimkehr.

Erfahrungen jenseits von Grenzen, in Grenzbereichen unserer Wahrnehmungen und Erfahrungen, können zur Selbsterkenntnis führen. Und eines gilt unverrückbar: Selbsterkenntnis ist gleich Gotteserkenntnis. Nach langen Kilometern stehe ich nackt vor mir, nackt vor Gott. Da kann ich mir nicht mehr ausweichen, kann das erste Aufflackern von Erkenntnissen nicht mehr wegdrücken durch Ablenkungen. Auch wenn es für mein Selbstbild schmerzliche Erkenntnisse sind: Ja, genau diese will ich erforschen. Diese bringen mich weiter im Leben. Ich stelle mich der Aufgabe, gleich doppelt. Die eine Aufgabe ist es, die sportliche Leistung zu erbringen. Diese Aufgabe ist schon gewaltig und nötigt Respekt ab. Und sie birgt potentiell auch das Risiko des Scheiterns. So eine Nacht ist lang und nicht berechenbar. Im Risiko des Scheiterns liegt aber auch die Würze der Teilnahme an dem Wettbewerb. Es ist trotz langem Trainings nicht gewiss, dass ich im Ziel ankomme. Das ist bei kürzeren Distanzen – abgesehen von Verletzungen – nicht der Fall. Da reicht die Erfahrung der langen Strecken und ich kann mich irgendwie, eben irgendwie, ins Ziel retten. Das ist bei der langen Kante anders, entscheidend anders. Durch diesen Reiz kommt noch im Unterbewussten ruhendes in Bewegung. Durch die bewusste Entscheidung, dies zu wollen und zuzulassen, kann das, was jetzt für mich dran ist, wie aus einem See auftauchen. Dann kann es gesehen und vor allem gefühlt werden: Ja, auch das bin ich! Darauf aufbauend kann ich das Erleben Schritt für Schritt integrieren. Wie gesagt: Das kann schon ganz heftig werden, gerade für das eigene Selbstbild. Doch es entspannt auf Dauer. Ich muss keine Kraft mehr aufwenden, um das einmal erkannte, zu dem ich "Ja" gesagt habe, wie bisher unter der Oberfläche halten zu müssen. Daraus erwächst ein tiefer gegründeter Frieden. Hier möchte ich diese Ausführungen stehen lassen, da es für einige Leser vielleicht zu persönlich werden könnte und eventuell auch ohne Belang für deren eigenes Leben ist. Es gibt viele Wege der Selbsterfahrung. Zum Beispiel pilgern Menschen auf dem Jakobsweg in Spanien; im Rollstuhl: Felix Bernhard (Dem Leben auf der Spur). Ich glaube, alle diese Menschen sind auf der Suche nach sich selbst, auf der Suche nach Gott. Heimkehr ist die Bewegung der Suche die uns gemeinsam ist und auf einer unsichtbaren Ebene verbindet.

Das Gefühl von Dankbarkeit durchzieht mich. Ich musste gerade an "M" denken, ich nenne diesen Menschen einfach "M". Er begegnete mir vor ca. zwei Jahren einige Male. "M" war an einen Rollstuhl gefesselt. Eines Tages lag ein merkwürdiger Blick auf seinem Gesicht, wehmütig, voller Sehnsucht nach Bewegung, nach Leben. So meine Interpretation. Mich berührte dieser Blick auf eine äußerst merkwürdige Weise, mir verschlug es die Sprache. Sagen konnte ich in diesem Augenblick nichts. Drei Tage später erfuhr ich, dass "M" kurz nach unserer letzten Begegnung gestorben war. Gerade an dem Tag, an dem er erfahren hatte, dass die vielleicht lebensrettende Organspende durchgeführt werden kann.

Ja, ich bin zutiefst dankbar für jeden Atemzug und für jeden Schritt, der mir hier auf dieser Welt geschenkt ist. Auf einer Welt, die in ihrer Not und ihrem Elend oft zum Verzweifeln ist und zugleich ist sie ein wunderbares und zerbrechliches Geschenk an uns Menschen. Mitten in diesem Riss, mitten zwischen Licht und Finsternis, da atmet die Seele des Ausdauerläufers.

Beitrag von Rüdiger Schaller - Fotos © LaufReport

 

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