Von 100 auf 0 auf 1 - in 6 Monaten

Veröffentlicht am 25. August 2024 um 18:46

Von 100 km auf 0 km auf 1 km - in 6 Monaten. Der bisher größte Lauf für mich steht an. Meine Vorstartspannung findet schon 3 Stunden vorher kein Ventil.

 

Der bisher größte Lauf für mich steht an. Meine Vorstartspannung findet schon 3 Stunden vorher kein Ventil. Alle Laufklamotten, die Gore Tex Laufschuhe, alles ist gepackt. Los geht´s. Die Anfahrt: Unerklärliche Nervosität beschleicht mich. Mehr als vor dem ersten Bieler 100er. Aus dem Bauch pulsiert es über das Herz bis in den Hals. Einparken am Ziel? Fehlanzeige! 2 Meter vorne, 2 Meter hinten Platz- nach drei Versuchen parke ich eben doch relativ schräg ein und schalte den Motor ab. Beklommen gehe ich zum Start. Dort ist es still, es ist, als ob das ganze weite Rund voller Spannung den Atem anhält. Sieben Grad. Leichter Wind weht Regentropfen ins Gesicht. Blätter wehen von den herbstlich gefärbten Bäumen nach nirgendwo. Mir fallen Steine vom Herzen als ich Alexandra aus der Laufgruppe "We run Wiesbaden" zusammen mit ihrer kongenialen Laufbegleiterin Amy sehe. Aufmunternde Worte vor dem Start; es geht los! Erst nach zwei Minuten merke ich, dass ich laufe! Unglaublich! Weiche, runde Bewegungen des operierten Knies. Stabil und sicher fühlt sich alles an. Unser Gespräch hat mich so abgelenkt, dass ich meine ganze Anspannung vergessen habe. Wir unterhalten uns angeregt weiter, bis wir die erste Runde geschafft haben.

 

Von 100 auf 0 auf 1 km in sechs Monaten. Nein, es geht nicht um die Beschleunigungswerte der modernen Kampfpanzer auf unseren Straßen, die oft und oft auch gezielt als Waffe genutzt werden. Nein, mein erster Lauf stand an. Vorausgegangen waren viele Stunden der Physiotherapie. Mobilisierung des Knies, dann der verbackenen Kniescheibe. Wunderbare Unterstützung - jeder Griff, jede Übung hatte mir geholfen. Auch wenn die ersten vielen Wochen mit der Orthese beschwerlich waren. Zu Beginn die 800 m bis zur Physio, immerhin in 50 Minuten geschafft. Mit der Erklärung der Griffe zur Mobilisierung der Kniescheibe folgte ich dem Rat von Michael Lederer, dem unermüdlichen Erfinder und Organisator von Spendenläufen und fand den Weg ins Thermalbad in Wiesbaden. 30 Tage, zunächst zwei, dann bis zu vier Stunden: 10 Minuten in dem Wasser gehen, 10 Minuten Mobilisierung, dann 10 Minuten Narbenmassage an der Massagedüse. Insgesamt ca. 90 Stunden, bis die Entzündung aus dem Knie und die Beweglichkeit wieder da waren. Endlich der nächste Schritt: Ab Mitte August wieder Krafttraining für die Quadrizepsmuskulatur. Von 20 Pfund auf inzwischen 84 Pfund einbeinig. Das waren 32 mal, immer wieder um 2 Pfund gesteigert. Endlich ist das Knie stabil.

Tja, und heute, das war tatsächlich der erste Lauf. Unfassbar lange darauf hingearbeitet - doch nun ist er Realität geworden. Ich atme durch, freue mich und folge dem Impuls nicht, der mich schon auf die zweite Runde schicken will. Auch weiterhin Geduld üben, dass ist glaube ich der richtige Weg. Nicht in der Freude nun alles wieder kaputt machen. Doch eines blitzt auf: 10 Minuten für 1 km, das ist ja schon ganz gut in Richtung Biel 2020. Ich spüre, irgendwie erinnert sich der Körper. Der Anfang ist vollbracht. Aufatmen: Ja auch die Bronchialmuskulatur atmet mit auf. Ich habe Asthma, da tut es der oberen Bronchialmuskulatur unendlich gut, wenn sie trainiert wird. Die ist in den letzten Wochen zunehmend erschlafft. Jetzt spüre ich, es geht wieder aufwärts aus einem tiefen Tal. Ich hatte lange kein Licht mehr gesehen, bin aber drangeblieben. Dranbleiben, das ist wohl der Schlüssel. Viel Unterstützung hatte ich bekommen, auch schöne Erlebnisse: Eine unendlich große Hilfsbereitschaft, wie ich mit dem Bus zum Thermalbad gefahren bin. Ob Alt und Jung, unabhängig von der jeweiligen Herkunft: Alle sorgten sich um mich. Auch die Busfahrer warteten alle, bis ich einen Sitzplatz hatte. So viel mehr gäbe es noch zu erzählen, dass aber an anderer Stelle. Jetzt, ganz punktuell, Danke an Alexandra und Ann Catrin für die Unterstützung für diesen so wichtigen ersten Lauf. Ebenso an Marion. Ann Cathrin: Auch Du wirst wieder ins Laufen kommen! Wann immer es ist, in Deiner Zeit: Ich supporte Dich!

Jetzt, ein paar Stunden nach dem Lauf, hat sich Erleichterung in mir ausgebreitet, gepaart mit stiller Freude. Ja, ich bin stolz auf mich und dankbar, dass ich wieder so richtig ins Leben komme.

 

Zur Vorgeschichte:

Laufen als Spiegel der Seele -  Der Körper als Tempel der Seele

Die Seele, das ist das, was ich wirklich bin, was mich ausmacht. Es ist weit mehr als mein Spiegelbild und als der gebrechliche Körper, den ich irgendwann einmal wieder ablege. Die Seele beschränkt sich nicht auf Gene und Gedanken, sie ist die Kraft, die mich lebendig sein lässt. Und sie weckt eine Sehnsucht in mir nach etwas, das weit über mich hinausgeht, weil sie weiß, wo ich herkomme und wo ich hingehe. Sie kennt nicht nur das Ich, das ich bin, sondern auch mein göttliches Gegenüber.

Geist, Körper und Seele im Einklang, das gibt den feinen Geschmack von Leben. Stille und Bewegung im Wechsel. Bewegung ist Leben. Den Tanz des Lebens tanzen, doch was unterbricht ihn? Wohin will meine Seele mich führen?

Über die letzten Jahre habe ich gerade in der Bieler Nacht etliches erlebt, vieles über mich entdeckt und gelernt. Bereicherungen für mein Leben. Dieses Jahr, da kam ich schwer in die Vorbereitung rein. Nach einigen Virusinfekten: Nein, ich kann dieses Jahr nicht in Biel starten. So traurig ich darüber auch bin. Zunächst noch hatte ich mit mir verhandelt: Du hast doch genug Erfahrung und Substanz. Mit jedem Infekt wandelte sich dann die Hoffnung in ein realistisches Annehmen: Durch die vielen Antibiotika war der Körper zu geschwächt, weit entfernt auch von seiner Lebendigkeit. Nach Absetzen der Mittel spontane Besserung des Körpergefühls. Immerhin der Marathon in Mainz stand an. Gebucht im Oktober letzten Jahres doch dieses Mal lief ich gezielt den Halbmarathon. Irgendwie passend das Motto der Charity-Aktion, die ich mit unterstützte: Lebenslauf. Vor dem Start eine freudige Begegnung: Constanze und Walter Wagner, die rasenden Reporter vom LaufReport. Bekannt auch für ihre tollen, fachlich fundierten Laufberichte. Ein kurzes Gespräch, dann ging´s zum Start. Fokussiertes Laufen, entspannt und konzentriert: nach knapp 2 Stunden und 40 Minuten im Ziel. Nach 3 Monaten ohne Training und 2 Trainingsläufen über 5 und 11 km: Ich bin zufrieden! Es geht mir körperlich zunehmend besser.

Eine Woche später bei Regen auf einer Steintreppe ausgerutscht: Quadrizepssehnenruptur links, so die Diagnose. Ein paar Tage später die OP, gut verlaufen, zum Glück. Im Krankenhaus ein Gespräch mit einem Leidensgenossen, das mich nachdenklich machte: In dem Unternehmen, in dem er arbeitet, gab es einen Führungswechsel. Neues Label für die Zusammenarbeit „Wir gemeinsam im Team“. Doch hinter dem Motto feierten Machtstrukturen mit eingefordertem bedingungslosem Gehorsam fröhliche Urstände. Ein Grundübel in der Gesellschaft, dieses Eichmann´sche Kopfeinziehen, diese Banalität des Bösen in einem rein auf Macht ausgerichteten Zusammenleben. Gepaart mit einem System der üblen Nachrede und des Rufmords gegen Menschen, die aufrecht durch diese Welt gehen. Was entfernt Menschen so sehr von ihrer Seele, von ihrem Herzen?

Jetzt, einige Tage nach der Entlassung aus dem Krankenhaus, da habe ich mich mit dem Unfall versöhnt. Nach den beiden bisherigen zwei einschneidenden Unfällen in meinem Leben hatten sich im Rückblick sehr segensreiche neue Wege und Entwicklungen aufgetan. Die mich bis hierher gebracht haben, da wo ich jetzt im Leben stehe. Ich misse nichts. Gemeinsam ist den Unfällen, dass sie so heftig waren, dass ich sie nicht ignorieren konnte. Und dass ich keine wirklich bleibenden körperlichen Schäden erlitten habe. So bin ich gespannt, welcher Lebensraum sich in seiner Zeit für mich öffnet. Meine Neugierde steigt! Auch wenn jetzt erst mal die möglichst vollständige Genesung ansteht. Doch mit dem Atem des Ausdauerläufers werde ich das die nächsten Monate schaffen. Mein kurzfristiges Ziel, das mich begeistert: An der Hochzeit meiner Tochter will ich den Brautwalzer tanzen, gerne auch mit Schiene. Das bekomme ich hin - sie ist doch so stolz und freut sich so sehr!

Und ganz leise, im Hintergrund, pocht schon Biel 2020 an die Tür, ganz sanft aber doch gut vernehmlich. Es leuchtet am Horizont, noch vor der Austragung 2019. Wieder in die Nacht eintauchen, sie riechen. Im Wechsel von Dunkelheit zum Licht neues Erahnen. Den vollen Tag schmecken. Dann die stille Freude beim Zieleinlauf genießen. Doch dann kam Corona.....

 

Rüdiger Schaller

2019/2020

Autor des Buche: "In die Stille"

 

 

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